Dienstag, 22. Januar 2008

Convenient Tales und Disneysierung: Schluss mit der Märchen-Manipulation!

Märchen, da sind sich Eltern und Pädagogen mal einig, sind wichtig für die Kindesentwicklung. Märchen stärken das Selbstvertrauen. Sie regen Phantasie und Kreativität an. Sie schärfen den Sinn für Lösungsansätze. So weit die gute Theorie. Tatsächlich sind viele Klassiker heute nur noch in „getunten“ oder verstümmelten Versionen im kulturellen Umlauf. Original und Fälschung – wer kann das noch entscheiden. Jüngstes Opfer: Meine Frau auf dem Stuhl bei „Wer wird Millionär?“. Bei 16.000 Euro steht sie vor der Frage: „Wer überlebt in dem Märchen von Hase und Igel?“ Der Igel? Der Hase? Beide? Keiner? - Sie kennt den Plot im Grundthema - das ist der Blickwinkel des Hasen, der bei wiederholten Anläufen an einem Konkurrenten („Ick bün all hier.“) nicht vorbeikommt - und glaubt, dass beide überleben. Die Befragung des Publikums und der hinzugezogene märchenerfahrene Telefonjoker gelangen zur selben Vermutung. Tja, und das war’s auch schon auf dem Weg zur ersten Million. Spaß gemacht hat’s trotzdem.

Dennoch haben wir uns gefragt, wie ein solcher Irrtum in unsere Köpfe kommt. Dazu zwei Beobachtungen. Erstens: die wenigen im Freundes-, Familien- und Kollegenkreis, die die Antwort wussten, waren meist deutlich über fünfzig Jahre alt. Zweitens: Nicht wenige der jüngeren waren überzeugt, die Geschichte zu kennen, wussten aber nichts vom Ableben des Hasen („Wie, da stirbt doch niemand!?“). Tatsächlich hatten die älteren noch das Grimm’sche Original vorgelesen bekommen, wir Jüngeren aber meist nur „entschärfte“ Versionen kennen gelernt.

Wer darüber mit Literaturwissenschaftlern und Psychologen spricht, gelangt zu verblüffenden Einsichten. Danach hat Zensur von Märchen Tradition. Sei es um vor etwa hundert Jahren eine neue Vorstellung von Kindheit vor Gewalteindrücken zu bewahren, oder, nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs (hier fanden die radikalsten Eingriffe in die Grimmschen Märchen statt) Menschen möglichst nur mit „heilen“ Märchenbildern zu versorgen. Erst in den Siebziger Jahren verstärkten sich Hinweise aus der Psychologie, dass Kinder durchaus in der Lage sind, Schrecken und Gewalt in Märchen produktiv zu verarbeiten. In seiner Schrift „Kinder brauchen Märchen“ hat der große Psychotherapeut (aber auch Philosoph und Germanist) Bruno Bettelheim auf die heilsame Wirkung solcher Märcheninhalte und der Vision vom glücklichen Ende hingewiesen. Die Bösen werden vernichtet und die Guten leben glücklich bis an ihr Lebensende. Aber: Nur wer eine Ahnung vom Bösen gewinnt, kann den Antrieb entwickeln, dieses zu überwinden. Doch alle Wissenschaft konnte den Mainstream der Manipulation nicht aufhalten. Im Gegenteil: Der Kuschelpädagogik folgte die Kommerzialisierung des Kulturgutes. Forscher weisen darauf hin, dass vor allem Disney-Produktionen den Märchen in ihrer ursprünglichen Fassung den Garaus gemacht haben. Da vergibt sogar das berühmte Aschenputtel seinen Schwestern und alle leben glücklich bis an ihr Lebensende, während die Grimmsche Fassung den bösen Schwestern noch jeweils ein Auge von Vögeln auspicken ließ.


Ähnliche Schicksale erlitten Klassiker wie „Die Schatzinsel“, „Gullivers Reisen“ oder „Oliver Twist“, die heute oft in trivialisierten, weichgespülten Versionen im Umlauf sind.
Ging es den einen noch darum, den Stoff in eine zeitgemäßere und vermeintlich attraktivere Sprache zu überführen, war den nächsten „Bearbeitern“ daran gelegen, die Story „kindgerecht“ von den Schrecken des Todes und der Gewalt zu befreien. Nur zum Spaß: Kramt doch mal Kinderbücher mit Grimms Märchen hervor und vergleicht den Inhalt mit den Originaltexten der Gebrüder. Von wegen: "Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die böse Hexe musste elendiglich verbrennen." Da dürfte die ein oder andere Überraschung lauern, gell?

Da lob ich mir doch Wikipedia. Da kann man wenigstens noch nachvollziehen, wer wann und wie am Ursprungstext herumgepfuscht hat. Für uns indes heißt die Losung: Finger weg von den Aschenputteln, Hasen und Igeln reloaded! Wer mit derart sterilisierter geistiger Flaschennahrung aufgezogen wurde, muss sich später einen Ausgleich in Ego-Shootern und Splatter-Movies suchen. Oder tappt einfach im Dunkeln bei den großen Fragen des Lebens.

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Lieber Andreas,

zunächst muss ich mich entschuldigen, dass ich Beates Auftritt nicht gesehen habe - zum einen wusste ich es nicht, zum anderen kann ich diesen Mann resp. diese Sendung nur unter medikamentöser Vorbereitung ertragen.

Zum Thema: Wie nicht selten sprichst du mir aus der Seele. Wer einen ganzen Abend lang mit dem Töchterchen auf einem dieser unsäglichen Sender einen Grimmschen Klassiker in der Barbie-Verstümmelung ansehen musste, weiß die guten alten Texte zu schätzen (die ich meiner Tochter fast alle vorgelesen habe - bevor ich Besuch vom Jugendamt bekomme). Und die gibt es, wer hätte es gedacht, in jeder Buchhandlung: Die ungekürzte(!) Gesamtausgabe der Märchen der Gebrüder Grimm. Nicht immer leichte Kost - gräßliche Stiefmütter werden auf schuld- und wehrlose Kinder losgelassen, Strafen für leichte Verfehlungen der Kleinen lesen sich wie Jahresberichte von amnesty international und der Tod ist so allgegenwärtig wie heutzutage Frau Merkel in den Medien -, aber Seite für Seite voll mit Lebensweisheiten. Es gibt sogar eine Psychotherapie, die individuell ausgewählte Märchen als Orientierungshilfe für den Patienten vorsieht.

Ob es an Beates psychologischer Konstitution und / oder beziehungsspezifischen Erfahrungen lag, dass sie weder dem einen noch dem anderen Tier den Tod wünschte, weiß ich jedoch nicht zu beurteilen.

In diesem Sinne märchenhafte Zeiten mit Kind(ern), Tier(en) und auch zu zweit

Heino